Wolkengänger 2

Schlicht, als wäre das Dasein ein Geschenk, das sowieso nicht von Dauer ist, stand Theresa am Ende des steilen erdigen Wegs am geteerten Straßenrand. „Wanakam“ rief sie uns zu. Sriram begrüßte sie freundlich. Ich rutschte über die staubige Unebenheit des Abhangs und fiel rücklings hin. Sie kam besorgt auf mich zu und fragte, ob ich verletzt sei.

„Ach was, nichts!“, sagte ich und stand auf. Ich entgegnete ihren direkten Blick und war berührt von klaren Gesichtszügen und ihrem Blick voller Mitgefühl. Nachdem sie sicher war, das ich unverletzt sei, beantwortete sie meine Fragen ganz knapp. Ihr dreizehnjähriger Sohn lebe jetzt in einem Wohnheim einer christlichen Schule.

„Dann lebst du ganz allein da oben in den Bergen?“

Sie lächelte mit einer selbstverständlichen Zuversicht, gerade so als ob es doch gar nichts Besonderes daran wäre ohne andere Menschen in unmittelbarer  Nähe in der felsigen einsamen Bergwelt zu leben. Immerhin ist sie eine sehr schöne Frau, schlank und hochgewachsen mit aufgerichtetem Brustkorb, stolz könnte man meinen, wenn nicht als Grundton diese Bescheidenheit wäre, die allen Menschen noch innewohnt, die in der wilden Natur leben und von ihr den Lebensunterhalt abtrotzen. So ganz allein in wilder Umgebung in einer kleinen steinernen Hütte zu leben ist für uns aus der Zivilisation erst mal erstaunlich. Sie sei die 2 Kilometer mit einem Sack Bohnen auf dem Rücken herabgelaufen. Die Bohnensäcke sind sie schwer. Wenn sie mehrere haben leihe sie sich den Esel von einem entfernten Verwandten weiter hinten im Tal. Esel und kleine Ponnies bringen von weitausgedehnt liegenden Bergfarmen die Ernte zur Straße über windige Pfade herab. Weit verzweigt t auf den zweitausend Meter hohen Berghängen sieht man die kleinen weißen Hütten der Kleinbauern. Manche haben Strom andere nicht. Meistens bauen sie Bohnen an, eine wenige haben Pfirsich- oder Pflaumenhaine. Gegen sechs Uhr kommt der Lastwagen aus dem Tal und sammelt die abgestellten Säcke ein um sie auf den Großmärkten in Madurai abzuliefern. Bargeld und Düngemittel werden einmal monatlich ausgeteilt.

„Der Laster sollte längst da sein“, sagt Teresa  und sie würde sich hier schon eine Weile die Beine vertreten.

Mit ihr ein bisschen zu warten bot uns jetzt Gelegenheit in ein längeres Gespräch zu kommen. Die Bergmenschen sind wortkarg und trotz ihres offenen Blicks, mit den Augen, die so wunderbar staunen können, verschlossen und für mich undurchsichtig.

Teresa hat ihren Mann, einen Nichtsnutz und Trinker, vor Jahren schon davon geschickt. Das Land hat sie von ihrer Mutter, die auch ohne Mann einige Kilometer weiter oben lebt, geerbt. Diese Mutter lebt auch allein in der Nähe des Berggipfels, dahinter geht es dann hinunter in den Elefantendschungel. Teresa hat ihren Sohn allein versorgt und ihren Bohnengarten größten Teils allein bestellt. Wenn sie dort keine Arbeit hat, was selten vorkommt, hilft sie uns mit Gruppen auf Base kurzfristig in der Küche aus. Ist Notwenigkeit, springen hier Menschen aus den umliegenden  und weit auseinander verstreuten Hütten kurzfristig ein. Manchmal hätte sie Hilfe von dem entfernten Verwandten oder Nachbarn aus den Pfirsichgärten. Das Kommunikationssystem klappe, auch wenn kein Handyempfang ist. Das kleine Handy hat zwar viel Erleichterung für die weit zersiedelt wohnenden Bergbewohner gebracht, aber nur dann wenn an wenigen Stellen Empfang ist. Sie haben es, wenn nicht in der Hand, irgendwo in Greifnähe in ihrer Kleidung. Und wenn es eben nicht geht, versuchen sie es mit Telepathie. Sie wissen dann irgendwie, wann und wo sie gebraucht werden und laufen los.  

„Wie viel bekommst du für den vollen Sack“?  frage ich.

„Zweitausend Rupien“, antwortet sie, das sind dreißig Euros. Teresa hat auch eine paar Kühe und baut ihr Gemüse an. Einmal, immer am ersten Montag des Monats holt sie sich Reis und Dhal im Ration-shop oben am Anfang der Straße in Pallangi.

„Wie kommst du die steilen – bestimmt sind es acht Kilometer –, nach oben?“ frage ich neugierig, denn es fährt ja hier kein Bus. Meistens fahre sie mit dem Milchwagen, der von unten aus Kombai kommt, die Serpentinen hinauf,  warte geduldig in der Schlange, das dauere manchmal Stunden und sei Anlass für den Austausch der Neuigkeiten, bis sie ihre Reis- und Dhal und Zucker Vorräte für sehr wenig Geld bekomme. Die Ration-card wird von der Regierung für die nicht viel verdienende Bevölkerung verteilt. An solchen Tagen wartet sie dann auf irgendwelche Pickups mit Lasten, die Leute und ihre Säcke für zwanzig Rupien mitnehmen. Viel Kleinbauern haben aber ein Moped, oder einen Motorroller, um die kurvige, aufregenden Ausblicke durch die Bergtäler gewährende Pass-straße nach Pallangi hinauf und hinunter zu fahren.

In Deutschland auf dem Land hat fast ein jeder, der ländlich lebt, ein oder zwei Autos und ist trotzdem unzufrieden und völlig verängstigt vor der Zukunft. Wenn ich in Teresas Gesicht schaue, strahlt es ruhige Gelassenheit aus, die ansteckend wirkt. Mein Gefühl für Zeit ändert sich innerhalb von wenigen Wochen, wenn ich hier bin.

Teresa fragt uns nach unserem Sohn und wir erzählen freudig wir seien ja jetzt Omi und Opi. Nachdem die Erkundigungen über die unmittelbaren Familien gegenseitig abgehandelt sind, bekommen wir, fast nebenbei, die fantastischen Geschichten zu hören.  Wir reden zunächst über die neue Mauer die weiter unten von der Regierung gegen das Heraufwandern von Elefanten gebaut wurde. Sie lacht:

„Ach, die Elefanten!… die kicken sie weg. Diese enorme Aufwand des Mauerbaus da unten, wo gar keine Straße mehr hinführt und die ganzen Steine von Menschen geschleppt wurden, beeindruckt doch die Elefanten nicht. Alles Verschwendung!“

„Ja, letzte Nacht habe ich wieder die Trommeln und die Feuerknaller gehört. Waren welche unterwegs?“

„Ja, gestern bei Jos, neulich bei mir. Dort naschen sie gern von den Jackfrüchten, die an den hier und da zwischen Felder stehenden Baumriesen hängen.“

„Ich würd so gern einen sehen!“, voller Neugierde sehe ich Teresa an. Mit großen Augen erzählt sie, wie sie erst neulich aus ihrer Hütte trat und etwa hundert Meter vor ihr ein großer Tusker  stand. Ihre Gesten werden lebendig:

„Ganz tief blickte ich ihm in die Augen und sagte leise immer wieder dasselbe ‚Wir alle arbeiten mit so viel Mühe in unseren Gärten und wollen einfach nur überleben. Ich tu dir doch nichts zu leide, wir haben gar nichts, wenn die ganze Ernte weg ist. Dann kann ich gar nicht überleben. Bitte lass doch meinen Garten!’ Der Elefant hat ganz allmählich seinen Kopf gewendet und sein Ohr mir zu gewandt, als würde er genau zuhören und mich verstehen wollen.  Wir standen lange so, ich ganz still und er ein wenig hin und her tosselnd!“

Teresa machte sachte Bewegungen, als würde ihr Körper schwingen und ich sah den Elefant genau vor mir.

„Wahnsinn, und was geschah dann“, fragt Sriram.

Ich bat ihn ganz ruhig ‚bitte mach meinem Garten nichts.’ Es muss eine halbe Stunde vergangen sein, bis er sich langsam drehte und wegtrottete.“  

Wir standen verblüfft über das mächtige wilde Tier am Straßenrand. Teresa fährt fort:

„Wenn wir Menschen nur so verständlich zueinander wären! Ach, ich wollte ihn wie Gott verehren in dem Augenblick.“

Ich betete: „Lass mich unter solchen Menschen wie Teresa leben. Was nützt uns der Klimastreik, unsere Aktivitäten dem Klimawandel entgegen zu treten, wenn wir nicht mit dieser innigen Liebe und der Ehrfurcht wie Teresa sie hat, endlich der letzten, noch intakten Wildnis begegnen können? Und deshalb denke ich an die Jackfruits, die der neuste Schrei in der veganen Szene in Berlin sind.

„Oh, lasst doch die Jackfrüchte hier für die Elefanten!“, fluch ich kurz über meine Landsleute. Wollen wir nicht endlich mit einem einfacheren Leben anfangen und essen was lokal wächst? Da sind all die Äpfel, die jährlich im Odenwald nicht geerntet werden weil sie krumm aussehen. Warum Jackfrüchte essen, nur weil eine Geschäftsidee sie als besonders gesund anpreist? Was soll dann der Elefant essen?

Die großen indischen Brotfruchtbäume mit ihren ein Meter langen, mit stacheliger Schale umgebenen Jackfrüchten, wachsen als Waldbäume hier wild in den Dschungeln Die Elefanten zertrampeln dann alles, was ihnen vor diesen Bäumen im Weg steht. Sie wandern gern herauf aus von der Tiefebenen des indischen Flachlands durch den Pallani Nationalpark, der unmittelbar hinter dem Garten von Teresas Mutter beginn auf der Suche nach ihnen.

1.2.2022, Kombai

3 Kommentare

  1. Eine nahezu märchenhafte Geschichte! Dass es so einfach lebende, zufriedene Menschen noch gibt – und so voller Kraft und Ruhe! Von Theresa könnten wir alle viel lernen. Und den Elefanten hätte ich gern life erlebt – ist ja spannender als jeder Krimi! Danke, liebe Anjali, dass Du uns teilhaben lässt an Euren ursprünglichen Erlebnissen in der fast unberührten Natur!

  2. Danke, liebe Anjali, für Deine berührende Geschichte, die mir gerade deshalb Tränen in die Augen treibt, weil sie so wahrhaftig ist! Ich bin tief, tief berührt … von dieser ganz besonderen Frau, ihrer schlichten und tiefgreifenden Verbundenheit mit der Natur, den Tieren und Deine authentische Erzählung!

  3. Liebe Anjali,
    mit Deinen Artikeln entführst Du mich nach Indien, in Deine 2. Heimat, wo ich auch schon so lange hingehen möchte. Über die Menschen dort zu lesen, solch persönliche und bezaubernde Geschichten zu erfahren macht mich sehr glücklich! DANKE !

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